Mythen im Gleitschirmsport – Der Gleitschirmhelm

Mythen sind Weisheiten aus meist veraltetem Wissen. Sie waren unter Umständen einmal Stand der Dinge, aber sie haben heute nicht länger Bestand. Leider werden sie auch nicht wahrer, wenn man sich an ihnen festhält und sie eifrig weiter erzählt. Heute möchte ich einmal den Mythos Gleitschirmhelm näher beleuchten.Hierzu schauen wir uns erstmal folgende Aussage an:

„Ein Hartschalen-Integralhelm bietet den besten Schutz für die Gesundheit des Gleitschirmpiloten“

Diese noch teilweise verbreitete Meinung soll hier anhand einiger Erfahrungen und Hintergrundwissen zur Diskussion gestellt werden. Kritisiert werden hier insbesondere die massiven Integralhelme mit festen nicht verformbaren und relativ weit vom Kinn abstehenden Kinnbügel. Genau diese Modelle scheinen uns von der OASE Flugschule aus folgenden Gründen nicht optimal:

Erhöhte Gefahr für Halswirbelverletzungen aufgrund der Hebelkräfte des abstehenden Kinnbügels

Die Werbung für einen Integralhelm besagt, dass dieser einen besseren Schutz der Zähne und des Kinns im Falle eines Frontalaufpralls oder einer Baumlandung bietet. Leider wird dabei nie über die potentiell gefährlichen Nachteile von abstehenden Kinnbügeln nachgedacht.

Besitzt du einen solchen Helm, dann möchte ich dich gerne zu folgendem Test einladen: Bitte setze den Integralhelm auf und bewege dich in den Vierfüsslerstand. Setze das Gesicht frontal oder leicht schräg auf den Boden und beobachte die teilweise unangenehm drehenden und hebenden Kräfte auf deine Halswirbelsäule. Mit diesem Test ohne Schwung und kinematische Kräfte sollte klar sein, was hier passieren kann.

Polemisch krass formuliert: Im Unglücksfall zieht vermutlich Jeder einen Zahnverlust oder eine Wunde am Kinn einer lebensbedrohlichen Halswirbelverletzung vor. Aber auch die Angst vor dem Zahnverlust möchte ich entkräften. Die normalen Reflexe eines gesunden Menschen verhindern in der Regel das vollfrontale Aufprallen des Gesichts. Normalerweise dreht man reflexartig das Gesicht aus dem Gefahrenbereich. Ein Stürzender wird deshalb eher seitlich mit dem Helm den Boden touchieren und oft noch zusätzlich die Arme schützend vor das Gesicht halten.

Einschränkung des Gesichtsfeldes durch den Integralhelm

Insbesondere nach unten ist die Sicht auf den Rettungsgerätegriff und die Fluginstrumente teilweise deutlich durch den breiten Kinnbügel eingeschränkt. Dies mindert den Flug-Komfort und kann wichtige Reaktionszeiten in Extremfällen ungünstig verlängern. Bei kalten Temperaturen beschlägt zudem besonders leicht die Brille des Integralhelm-Piloten weil dessen Atem nicht frei wegströmen kann.

Höheres Eigengewicht der harten Integralhelme

Es ist ohne Frage, dass ein Integralhelm aus mehr Material besteht. Genau dieses Material bringt auch ein mehr an Gewicht mit sich. Die Ermüdung der Nackenmuskulatur oder gar Überlastung derer durch Zentrifugalkräfte beim Spiralen ist umso wahrscheinlicher je schwerer der Helm ist.

Schlechtere Geräuschkulisse vermindert den Bezug zum Wind

Der Bezug zum Wind ist wichtig. Egal ob es um das Spüren von gefährlich niedriger Eigengeschwindigkeit nahe der Mindestgeschwindigkeit ist, oder es um die feine Beurteilung der Windsituation beim Start geht, die dicken Integral-Flughelme schränken den Sinn dazu ein.

Größere Packmass

Ein größeres Packmass ist für manche kein besonders wichtiges, sicherheitstechnisches Kriterium Kriterium. Zum allgemeinen Trend zu leichter, kompakter Hike and Fly Ausrüstung mit keinen Rucksäcken passt eher ein kleinerer Gleitschirmhelm.

Beobachtungen zum Thema aus der Praxis

Die Erfahrungen aus 26 Jahren Flugschultätigkeit: Bei uns fliegen den Flugschüler zu 99 Prozent mit Halbschalenhelmen ohne Kinnbügel. Wir haben bis dato circa 5000 Flugschüler ausgebildet und können weit über 400.000 Schulungsstarts verzeichnen. Natürlich kommt es dabei immer wieder zu kleinen Stolpere, lockeren Purzelbäumen und hin und wieder auch zu kapitalen Frontstall Fehlstarts.

Die Zahl der Gesichts- oder Zahnverletzungen war dabei annähernd bei Null – nach 26 Jahren ohne Kinnbügel.

Wäre dies anders, hätten wir längst Integralhelme eingeführt, diese dann aber mit flexiblen, sehr nahen, das Kinn berührenden Bügeln ausgestattet. Die Erfahrungen betrachtet, halten wir es sicherheitstechnisch für unnötig einen Hartschalen Integralhelm zu tragen und es würde zudem den Komfort und die Kommunikation zum Fluglehrer mindern.

Andererseits habe ich in 30 Jahren Fliegerlaufbahn im Wettbewerb und in der Freifliegerei Gott sei Dank sehr wenige, aber doch drei Unfälle mit schwerwiegenden Halswirbelfrakturen miterlebt. Aufälligerweise trugen dabei alle drei Piloten einen Flughelm mit Kinn.

Nahezu alle Toppiloten des Gleitschirmworldcups fliegen heute mit Halbschalen. Gleichzeitig fliegen auch nahezu alle Profi-Tandempiloten, die allermeisten Routiniers und sowieso alle Hike and Fly Piloten mit einem Gleitschirmhelm, der vorne offen ist.  Wieso auch nicht? Sie alle wissen, dass die Halbschalen Helme in Sachen Sicherheit, Komfort und Flugkontrolle viel mehr Vor- als Nachteile bringen.

Gelegentlich sieht man auffällig unsichere Piloten mit großen Technik Defiziten am Start. Interessanterweise tragen genau diese Piloten fast immer solch einen dicken Kinnbügelhelm im Irrglauben an die vermeidlich höhere Sicherheit. Aber auch hier gilt für den Helm, genau wie es auch für mächtige, schwere Gurtzeuge gilt: Der moderne Leichtbau befreit von unnötiger Last, schütz gut, bringt Gefühl und erleichtert das Starten spürbar.

Und merke: Der mit weitem Abstand wichtigste Protektor für jeden Piloten ist sein Verstand, seine Erfahrung und sein Können.

Heute gibt es eine große Auswahl an guten und hervorragenden Helmen für Gleitschirmpiloten.

Von uns empfohlene und in der Schulung benutzte Modelle sind der Flughelm Supair Pilot, der Flughelm der Icaro Nerv.

Icaro Nerv GleitschirmhelmGleitschirmhelm Supair Flughelm School blau Helm zum Gleitschirmfliegen von vorne

Peter Geg,
OASE Flugschule